Wie viele Fehler dürfen’s denn sein? – Der Unterschied zwischen Lektorat und Korrektorat.

 

Darüber diskutieren diesmal (von links): Kathleen Weise, Annette Jünger, Dr. Grit Zacharias, Susanne Wallbaum und Mirjam Becker

 

 

Worin besteht der Unterschied zwischen Lektorat und Korrektorat?

 

Kathleen Weise: Vereinfacht gesagt, die Korrektur beschränkt sich auf die reine

(Satz-)Fehlersuche. Sie umfasst Komma-, Tipp- und Grammatikfehler.

Worum sie sich nicht kümmert, sind Ausdruck, Stil und Inhalt des Textes. Das ist Aufgabe des Lektorats, das die tiefere Textarbeit umfasst.

Klingt einfach, der Unterschied ist in der Praxis aber oft schwer zu erkennen. Immerhin bieten viele Lektoren innerhalb des Lektorats auch „Korrekturdurchgänge“ an.

 

»Lektorat und Korrektorat in einem Durchgang – das ist meiner Erfahrung nach ein Garant für Komma- und sonstige Fehler aller Art.«

Können also Lektorat und Korrektorat in einem erfolgen?

 

Susanne Wallbaum: Lektorat und Korrektorat in einem Durchgang – das ist meiner Erfahrung nach ein Garant für Komma- und sonstige Fehler aller Art. Ich kann unmöglich beides in einem, denn ich habe beim Lektorieren eine andere Brille auf als beim Korrigieren.

Kann schon sein (ist sogar wahrscheinlich), dass ich im Zuge des Lektorierens Schreib- und Grammatikfehler beseitige, aber mein Fokus liegt woanders: Stimmt das verwendete Bild? Klingen Dialoge echt? Wie klingt es überhaupt (manchmal lese ich mir laut etwas vor)? Lese ich hier eine Wiederholung? Wird’s langatmig, kitschig, verschwurbelt? War die handelnde Person nicht am Anfang noch blond – und jetzt ist sie brünett? Usw. usf.

Auf diese Dinge zielen meine Eingriffe in den Text bzw. meine Vorschläge an die Autorin. Erst wenn das alles „erledigt“ ist, sollte in einem gesonderten Durchgang korrigiert werden, und bitte nicht von mir, sondern idealerweise von jemandem, der den Text noch nicht kennt.

 

Grit Zacharias: Richtig, idealerweise. Dennoch sieht die Realität häufig anders aus. Viele Kunden erwarten am Ende einen lektorierten und gleichzeitig fehlerfreien Text von uns. Und in vielen Fällen lässt das Honorar einfach keine Weiterbeauftragung für ein Schlusskorrektorat zu.

Dann heißt es also: im ersten Durchgang Lektorieren, wie von Susanne beschrieben, und im zweiten Durchgang reines Korrekturlesen, am besten auf Papier. Das erfordert immer höchste Konzentration – vielleicht sogar umso mehr, wenn man den Text zuvor bereits selbst lektoriert hat – und hat wenig damit zu tun, „nur noch mal schnell über den Text zu gucken“.

 

»Immer mehr Verlage sparen sich separate Korrektoratsgänge, und nur wenige leisten sich den ›Luxus‹ einer Schlusskorrektur. Dies geht immer zulasten der Qualität, und so erklären sich häufige Fehler in ansonsten inhaltlich guten Büchern.«

 

Annette Jünger: Auch ich kann Susanne nur zustimmen: Lektorat und Korrektorat sollten bestenfalls getrennt werden. Oft ist dem Kunden aber nicht klar, wo der Unterschied zwischen beiden liegt bzw. dass es überhaupt einen gibt. Deshalb sollte bei einem Auftrag unbedingt vorher nachgefragt und geklärt werden, was der Kunde für Dienstleistung(en) erwartet, um Missverständnissen und späteren Enttäuschungen vorzubeugen. Kann er dies nicht genau benennen, muss ihm der Unterschied aufgezeigt werden.

Der Lektor hat ihm dann zu vermitteln, dass ein Lektorat nicht automatisch ein Korrektorat beinhaltet (umgekehrt natürlich genauso wenig). So sollte es sein. Dass es nicht immer so ist, hat Grit gerade beschrieben: In der Praxis wird immer häufiger genau dies vorausgesetzt – bei Selfpublishern oft aus Unkenntnis, bei Verlagen aus Kostengründen.

Immer mehr Verlage sparen sich separate Korrektoratsgänge, und nur wenige leisten sich den „Luxus“ einer Schlusskorrektur. Dies geht immer zulasten der Qualität, und so erklären sich häufige Fehler in ansonsten inhaltlich guten Büchern. Leider wird dieser Qualitätsverlust oft in Kauf genommen – eine Tendenz, die nicht meine Zustimmung findet.

 

Wie sieht es bei Sach- und Fachtexten aus?

 

Susanne Wallbaum: Den „Luxus“ einer Schlusskorrektur sollten sich vor allem jene leisten, die aufwendiger strukturierte Bücher (oder Broschüren, Kundenzeitschriften, was auch immer) publizieren. Im Gros der belletristischen Texte „fließt“ der Text von Seite zu Seite, von Kapitel zu Kapitel, da ist die Anzahl der Gestaltungselemente überschau- und kontrollierbar.

Anders ist das bei Sach- oder Fachtexten mit Tabellen, Grafiken, Fotos, unterschiedlichen Überschriftengraden, Fußnoten, Literaturlisten, Registern und was es sonst noch so gibt. Das Ganze vielleicht noch mit zehn unterschiedlichen Beiträgern, jeder mit stilistischen Eigenheiten, Zitierweisen, Vorstellungen vom Layout („Ich kann das in Word alles selbst gestalten.“).

Und entstehen soll daraus ein Buch, das vielleicht zum Standardwerk avancieren und über Jahre genutzt werden soll. Hier tun sich zahllose Fehlerquellen auf; es gibt so viel zu bedenken und zu beachten, dass auf der sicheren Seite eigentlich nur ist, wer in einen letzten Kontrollblick investiert.

 

 

»Umso wichtiger ist es deshalb, für jede Textsorte wirklich genau festzulegen, was konkret gemacht werden soll, und die einzelnen Korrekturgänge intern über den Seitenpreis zu realisieren.«

 

Mirjam Becker: Was ist aber zum Beispiel mit wissenschaftlichen Abschlussarbeiten, hier dürfen ja gar keine inhaltlichen Eingriffe stattfinden? Da finde ich die Unterscheidung zwischen Korrektorat und Lektorat extrem schwierig.

Wenn die Korrektur von falsch zusammengesetzten Redewendungen noch als Korrektorat gelten kann, wie sieht es dann mit Anglizismen (das unsägliche „macht Sinn“ z. B.), schiefen Bildern oder Wendungen wie „erneuerbare Energieanlagen“ aus? Ist das noch Korrektorat (eine Frage der Rechtschreibung) oder schon Lektorat (Feilen am Stil)?

Und vom wissenschaftlichen Apparat oder dem Literaturverzeichnis reden wir da schon gar nicht, diese Korrekturen sind fast eine eigene Kategorie. Eben weil die Übergänge so fließend sind, nenne ich dem Kunden gegenüber alles „Lektorat“, auch wenn das eigentlich nicht richtig ist, und korrigiere entsprechend sowohl Grammatik, Stil als auch Formalia.

 

Möglicherweise hängt das aber auch von der Textsorte ab, bei einem belletristischen Text würde mir die Unterscheidung vielleicht leichter fallen. Umso wichtiger ist es deshalb, für jede Textsorte wirklich genau festzulegen, was konkret gemacht werden soll, und die einzelnen Korrekturgänge intern über den Seitenpreis zu realisieren. Natürlich wären mehrere Durchgänge immer besser, und ein Schlusskorrektorat (bestenfalls von einer anderen Person) zu machen, stellt zweifellos den Idealfall dar, das findet aber in der Praxis (bei Sachtexten z. B.) bei mindestens der Hälfte aller Fälle nicht statt, bei Abschlussarbeiten sowieso nur über interne Korrekturgänge.

 

Welches sind die häufigsten Gründe für stehengebliebene Fehler?

 

Mirjam Becker: Die passieren nicht nur aus Unkenntnis und Sparsamkeit der Auftraggeber (die würden meiner Erfahrung nach sehr gerne mehrere Korrekturgänge machen lassen), sondern viel zu häufig auch durch den durch Redaktionsschlüsse, Abgabe- und Drucktermine verursachten Zeitdruck – vor allem, wenn die Autoren nicht pünktlich liefern oder z. B. bei Agenturen die Rückmeldung der Auftraggeber auf sich warten lässt. So bleiben manchmal zum Ärger aller Beteiligten Fehler stehen – oder neue werden produziert.

 

Kathleen Weise: Wie in jedem Arbeitsbereich ist es auch bei uns so, dass Fehler vermieden werden, wenn alle Beteiligten ausreichend Zeit bekommen und miteinander kommunizieren. Häufig ist es jedoch so, dass Lektor und Korrektor gar nicht mehr miteinander über das Manuskript reden, vom Fahnenkorrektor ganz zu schweigen. Es kam auch schon vor, dass die Layouter Änderungen vorgenommen haben, um Hurenkinder oder Schusterjungen im Text zu vermeiden (die wiederum ihnen angelastet werden). Das alles sollte nicht passieren, geschieht aber. Häufig aus Zeitdruck (Kostenreduzierung), manchmal aus Unwissenheit, selten aus fehlender Arbeitsethik.   

 

Vor welchen Fehlern graut es Lektoren?

 

Mirjam Becker: Meiner Ansicht nach gibt es vier Arten von Fehlern:

  1. die „echten“, in der Tat übersehenen,
  2. die Übertragungsfehler beim Korrigieren auf Papier oder im PDF,
  3. nachträgliche Änderungen der Autoren/Auftraggeber nach unserem Korrekturgang (manchmal auch aus Besserwisserei absichtlich nicht umgesetzte Korrekturen) und
  4. die Fehler, die wir gar nicht korrigieren konnten, weil wir den Textteil überhaupt nicht vorliegen hatten (wie beispielsweise Einleitungen, Grußworte, Umschläge).

Und gerade weil unter Zeitdruck produzierte Texte oft direkt nach dem Korrektorat in den Druck gehen, heißt es dann: „Die Lektorin hat schlecht gearbeitet.“ So was piept mich schon enorm an …

 

Kathleen Weise: Natürlich ärgert man sich über jeden Fehler, der stehenbleibt und gefunden wird. Ich persönlich am meisten über die ganz einfachen, die, die man kennt, Tippfehler und Buchstabenverdreher. Weniger über Streitfälle oder komplizierte Grammatikfragen.

 

Ab welcher Fehlerquote hat der Lektor schlecht gearbeitet und kann der Kunde erwarten, dass alle Kommafehler beseitigt sind?

 

 

»Es geht nicht darum, dem Korrektor alle Fehler zu überlassen und sich als Lektor rauszureden.«

 

Kathleen Weise: Das ist so schwer zu beantworten. Es gibt Kollegen, die bei bestimmten Fehlerquoten Nachbesserung bzw. Honorarnachlass anbieten. Ich finde, diese Quote sollte von der Textarbeit abhängig sein, also vom Aufwand. Bei einem einfachen belletristischen Text mit einem einfachen Lektorat sind drei Fehler pro Seite nach dem Lektorat (und vor der Korrektur) sicher zu viel. Ein Fehler alle drei Seiten kommt da schon eher hin.

Aber selbst ein Fehler pro Seite kann bei einem Lektorat, das intensive Textarbeit umfasste, also Änderungen in Struktur/Aufbau, Stil und Figurenzeichnung, noch als akzeptabel gelten.

Es geht nicht darum, dem Korrektor alle Fehler zu überlassen und sich als Lektor rauszureden. Für schlechte Arbeit sollte man geradestehen, jedoch sollten weder Autoren noch Verlage Wunder von Lektoren erwarten. Vieles hängt ja auch vom Ursprungstext ab.   

Am Ende bleibt die Frage, ob der Autor (Verlag) das Gefühl hat, dass sein Text durch das Lektorat besser geworden ist. Meines Erachtens ist das das eigentliche Ziel.  

 

Mirjam Becker: Mir hat sich eingeprägt, dass ein Prozent stehengebliebene Fehler tolerabel seien, allerdings weiß ich nicht, wo ich das herhabe. Es stellt aber eine realistische Zahl dar und trägt auch der sehr unterschiedlichen Qualität der Ursprungstexte Rechnung.

Wenn ein Text 100 Fehler enthält und ich finde einen nicht, halte ich das für menschlich, wenn der Text nur zehn Fehler hatte und ich finde einen nicht, ärgere ich mich über alle Maßen. Und die Wahrscheinlichkeit, alle Fehler zu finden, steigt natürlich, wenn im Ursprungstext die Fehlerdichte relativ niedrig ist.

Das Ziel ist selbstverständlich immer, die ganzen 100 Prozent zu finden, das zu versprechen, hielte ich aber für unseriös. Und beim Stil sind es ja auch oft Geschmacksfragen, ob ich etwas korrigiere oder nicht. Ich würde Kathleens Aussage sogar noch zuspitzen: Die Hauptsache ist, den Text besser zu machen – wenn der Kunde auch findet, dass uns das gelungen ist, umso besser.

 

 

»Wir sind uns alle einig, dass im Anschluss an einen lektorierten Text immer noch mal ein Korrekturgang/ein Korrektorat erfolgen muss [...]«

 

Zur entscheidenden Frage: Warum kann das eine nicht ohne das andere?

 

Grit Zacharias: Na ja, ich denke, dass dies, so formuliert, nur in eine Richtung gilt. Wir sind uns alle einig, dass im Anschluss an einen lektorierten Text immer noch mal ein Korrekturgang/ein Korrektorat erfolgen muss – aus all den Gründen, die ihr alle genannt habt.

Aber natürlich landen auf meinem Tisch auch Texte, die kein Lektorat erfordern. Ich persönlich denke hier in erster Linie an Autoren wissenschaftlicher Texte, an Autoren, die tatsächlich sprachlich und stilistisch einwandfreie Texte vorlegen, bei denen es wirklich nur darum geht, dass noch vorhandene Fehler beseitigt werden. In solchen Fällen bezieht sich das „Text-besser-Machen“ einzig und allein darauf.

 

Annette Jünger: Als Fachlektorin für Medizin kann ich dies bestätigen. Es gibt eine ganze Reihe von Autoren, die sehr gut schreiben können und denen man anmerkt, dass sie schon jahrelang publizieren. Das ist dann ein Vergnügen, sich durch solche Texte zu arbeiten.

Aber auch da ist durchaus Lektoratsarbeit notwendig, aus vielen Gründen:

  • Passt die Legende zur Abbildung (oder ist sie vertauscht worden)?
  • An welcher Stelle steht im Fließtext der Abbildungs- oder Tabellenverweis (kommt der Verweis erst nach der Abbildung oder Tabelle)?
  • Fehlt gar der Verweis? (So muss er an inhaltlich passender Stelle vom Lektor eingefügt werden.)
  • Stimmen die Überschriftenebenen?
  • Ist das Kapitel zu lang und muss in kleinere Einheiten mit Überschriftenvorschlägen für den Autor eingeteilt werden? (Meist Verlagsvorgabe: Ein Kapitel muss etwa soundso lang sein.)
  • Sind grafische, didaktische oder ähnliche Elemente vorgesehen, sind diese wie vom Verlag gewünscht vom Autor umgesetzt? (Wenn nicht, muss es der Lektor tun.)
  • Sind Internetadressen bei Online-Quellen noch aktuell? (Dies ist zu überprüfen; ggf. ist dem Autor mitzuteilen, wenn sich Seiten nicht mehr öffnen lassen.)
  • Sind Literaturangaben alle vollständig (oder fehlen Seitenangaben o. Ä.)?
  • Stimmen die Schreibweisen der zitierten Autoren im Literaturanhang mit denen im Text überein (ist Schulze und Schultze derselbe)?
  • Sind Abkürzungen einheitlich gehandhabt – überhaupt, sind Schreibweisen vereinheitlicht …?

All das fällt ins Lektorat.

 

Und am Ende die Schlusskorrektur:

  • Überprüfung des Inhaltsverzeichnisses (Seitenzahlen und Überschriften),
  • von Abkürzungs- und sonstigen Verzeichnissen (vollständig oder nicht),
  • von Interpunktion (ist sie einheitlich gehandhabt bei Aufzählungen, Fußnoten o. Ä.),
  • von Kolumnentiteln, Marginalien, von Silbentrennung und Zeilenumbruch,
  • von Schriftart/-größe, Abständen, Hervorhebungen (Fett-/Kursivschrift), Linien (dick, dünn), Farben (bei Mehrfarbdruck),
  • Platzierung von Abbildungen/Tabellen,
  • Überprüfung von Schusterjungen und Hurenkindern,
  • Überprüfung des Satzspiegels ganz allgemein ...


Auf den Punkt gebracht: „Das Buch lebt davon, dass es als Einheit wahrgenommen wird.“ (Klaus Hurrelmann in: Klaus Reinhardt Vom Wissen zum Buch. Fach- und Sachbücher schreiben. Huber, Bern; 2008)

 

Kathleen Weise: Oder bildlich ausgedrückt – Lektorat und Korrektorat sind eben keine eineiigen Zwillinge, sondern nur Schwestern. Verwandt, aber nicht gleich.