Lektorat erbeten. So eine gängige Auftragsanfrage auf unseren Schreibtischen. Ein Blick in die Probeseiten, Kalender befragen, Honorar verhandeln – und wenn alles passt, legen wir los. Bestenfalls unterhält uns der Text, und die Arbeit geht gut von der Hand. Was aber, wenn das nicht der Fall ist? Wenn uns Plot und Ausführung (vielleicht wider Erwarten) langweilen, wir der Geschichte wenig abgewinnen können? Ist unsere Arbeit dann eine andere? Ist es mangelnde Professionalität, dies nicht im Vorfeld zu erkennen? Darf der Autor von uns erwarten, dass wir uns in jedem Fall in seinen Text verlieben? Oder dürfen wir generell nur Texte annehmen, die wir von vornherein klasse finden?
Darüber diskutieren diesmal (von links): Mona Gabriel, Bettine Reichelt, Susanne Wallbaum, Monika Rohde, Kathleen Weise und Grit Zacharias
Mona Gabriel: Grundsätzlich geht es nach der ersten Anfrage erst einmal ums Sichten. Ist
das Manuskript überhaupt schon reif fürs Lektorat? Das heißt konkret: Ist der Text in einem
Stadium, in dem die Arbeit am Text überhaupt schon sinnvoll ist? Dazu müssen einige Dinge passen.
Ich schaue zunächst, ob der Autor das sprachliche Handwerkszeug beherrscht. Es ist
niemandem geholfen, wenn ich als Lektorin jeden Satz anfassen muss, um ihn in
korrektes Deutsch zu bringen. Das wäre dann erstens eher Ghostwriting und zweitens für den Autor meist unbezahlbar. Außerdem versuche ich, vorab einzuschätzen, ob die Geschichte Potenzial hat. Sind
die Figuren so gezeichnet, dass sie mich als Leser interessieren? Ist der Grundkonflikt interessant?
Kathleen Weise: Was ist, wenn du dich bei dieser Einschätzung täuschst?
Mona Gabriel: Natürlich passiert es auch mir, dass ich mit meiner Ersteinschätzung
danebenliege. Dann gilt es abzuwägen: Ist das nur meiner persönlichen Vorliebe geschuldet, oder gibt es grundsätzliche Probleme mit dem Manuskript?
Nicht jeder Text, den ich redigiere, reißt mich persönlich vom Hocker, aber ich kann mir vielleicht dennoch vorstellen, dass es Leser gibt, denen der Text gefällt. Diesem muss ich mich natürlich mit
der gleichen Sorgfalt widmen wie einem Text, der mich begeistert. Wenn ich beim Lesen feststelle, dass meine Ersteinschätzung falsch war, suche ich auch manchmal erneut das Gespräch mit dem Autor, um
ihm meine Bedenken zu erklären. Natürlich muss mir nicht jeder Text persönlich gefallen. Aber eine gewisse Affinität zum Thema ist mir schon wichtig. Als Lektorin
habe ich ja auch Erfahrung in bestimmten Textsorten, und der Autor profitiert dann am besten von meinem Fachwissen, wenn ich mich auf mir bekanntem Terrain bewege. Einem Lektor für Spannungsliteratur
liegt ein Fantasyroman sicher weniger.
Kathleen Weise: Lektoren behaupten ja oft, dass richtig gute Texte schwerer zu lektorieren seien, weil da viel weniger zu tun sei und man ständig die
Angst habe, etwas zu übersehen, weil man eben manchmal zu »verliebt« in den Text sei. Allerdings birgt dieses »lieber Lesen als Lektorieren« ebenso Gefahr wie der Frust, den ein richtig schlechtes
Manuskript erzeugen kann. Ein frustrierter Lektor wird irgendwann möglicherweise auch ein unaufmerksamer Lektor. Daher müssen Lektor und Manuskript schon ein
bisschen zusammenpassen, da gebe ich Mona recht.
Grit Zacharias: Ja, was aber, wenn der erste Eindruck getrogen hat? Eine neue Bekanntschaft rufe ich dann vielleicht einfach nicht mehr an, der Auftrag
jedoch ist zu Ende zu bringen – und das natürlich gut. Bei der Arbeit am einzelnen Satz (Korrekturen, Grammatik, Syntax) werden die Unterschiede so groß nicht sein, aber wir fügen Kommentare an,
hinterfragen dies oder jenes, fassen am Ende unsere Hinweise an den Autor schriftlich zusammen. Und dann liest der Autor dort möglicherweise jede Menge kritische Anmerkungen, die ihm vielleicht
missfallen. Und er stellt das ganze Lektorat und damit unsere Arbeit infrage. Denn den Text haben ja vorher schon X und Y gelesen, und die fanden ihn durchweg gut. Was machen wir dann?
Hat ein Autor ein Anrecht auf einen ihm wohlgesonnenen Lektor? Hält man sich, wenn der Autor ohnehin nicht mehr viel an seinem Text ändern will, mit Kritik lieber zurück?
Mona Gabriel: Von falscher Zurückhaltung halte ich gar nichts. Wenn der Autor keine Kritik ertragen kann, dann wird er auch nicht lernen können. Er
engagiert mich ja gerade dafür, ihm seine Schwachpunkte aufzuzeigen! Natürlich braucht das ein gewisses Fingerspitzengefühl und vor allem konstruktive Vorschläge. Trotzdem ist das auch für gute
Autoren manchmal schwer zu ertragen. Eine Autorin, mit der ich schon lange zusammenarbeite, nannte ihre erste Reaktion auf meine Korrekturen mal ihren persönlichen »Schmollmoment« – erst einmal fühlt
sie sich durch meine Hinweise persönlich angegriffen. Nach einer Nacht drüber schlafen sieht sie dann die positiven Ideen und wie das ihren Text besser macht.
Kathleen Weise: Die Frage ist doch, wie viel Einsatz kann ein Autor von seinem Lektor erwarten? Es wird ja im Vorfeld ein Angebot erstellt, in dem die
Leistungen festgehalten werden. Aber darüber hinaus? Was ist mit aufmunternden E-Mails an den vielleicht noch unerfahrenen Autor? Was ist mit Tipps und Tricks, die alte Hasen an junge Hüpfer
weitergeben könnten? Was ist mit Sondereinsätzen an Wochenenden und Telefonaten zu später Stunde?
Als Freelancer muss man sehr genau aufpassen, dass am Ende die Kalkulation stimmt und man nicht aus Sympathie oder aufgrund von Textbegeisterung permanent Leistungen erbringt, die man sich eigentlich
bezahlen lassen müsste (denn auch die Tipps und Tricks sind ja mal erlernt worden, in anderen Branchen nennt man das Fachwissen, für das man teuer bezahlen muss). Ich
würde also sagen, dass man häufig mehr erbringt, wenn man den Text / den Autor gut findet, aber nicht weniger, wenn das Gegenteil der Fall ist.
Monika Rohde: Manchmal ist es aber auch umgekehrt, man gibt mehr Tipps bei Autoren, die unerfahren sind, um ihnen weiterzuhelfen. Ich schaue mir die
Manuskripte auch vorher an, ob sie in meinen Bereich passen, und entscheide mich manchmal gegen einen Auftrag, weil ich mich mit dem Inhalt nicht gut auskenne. Aber
schlechte Qualität des Textes ist bei mir kein Ablehnkriterium. Dafür ist meine Arbeit ja da, um den Text besser zu machen oder auch um dem Autor Hinweise zu geben, wie er seine Texte
verbessern kann. Wenn ich sehe, dass der Autor gern schreiben möchte, aber noch seine Schwierigkeiten hat, empfehle ich ihm ab und zu eine Schreibgruppe vor Ort. Das hat schon manchmal gut
gewirkt.
Inzwischen habe ich die Erfahrung gemacht, dass auf ein schlechtes Manuskript mit viel
Arbeit zumeist ein sehr viel besseres zweites folgt, weil der Autor durch meine Kommentare und Hinweise etwas gelernt hat und nun sehr viel besser schreibt.
Mona Gabriel: Gerade wenn man Autoren über einen längeren Zeitraum begleitet, sollten ja die Manuskripte immer besser werden. Das ist dann auch für mich
als Lektorin ein Erfolgserlebnis. Dann wird die Arbeit am Manuskript mit der Zeit zwar nicht einfacher – es erfordert genauso viel Konzentration, an einem sehr guten Text zu arbeiten wie an einem
schlechten –, macht aber deutlich mehr Spaß. Ich habe tatsächlich mehrere solcher »Lieblingsautoren«, bei denen ich mich immer freue, wenn was Neues von ihnen auf meinem Schreibtisch landet. Und
natürlich ist man derart positiv gestimmt auch eher bereit, mal
zusätzlich einen Anruf zu tätigen oder einen Vorschlag für den Klappentext zu machen. Es muss eben alles in einem annehmbaren Rahmen bleiben – das kann jeder nur für sich selbst
einschätzen.
Susanne Wallbaum: Wir sollten das Gespräch mit dem Autor von vornherein in unsere
Kalkulation einbeziehen (also Zeit für Kommunikation, auch Telefonate zu später Stunde, die
Weitergabe von Fachwissen etc.), denn dieses Gespräch, in welcher Form es auch stattfindet, ist meiner Meinung nach essenzieller Bestandteil unserer Arbeit.
Ich glaube, es wäre für beide Seiten frustrierend (und auf die Dauer langweilig), würde
dieser Part fehlen. Wir lernen daraus ja ebenso: unsere Kommentare so zu formulieren, dass sie als konstruktiv wahrgenommen werden; öfter mal etwas zu hinterfragen bzw.
nachzufragen, bevor wir in den Text eingreifen; unsere Entscheidungen zu begründen (was gar nicht immer einfach ist). Umso schöner, wenn es, wie von Mona beschrieben, länger währende
»Beziehungen« zu Autoren gibt; sie müssen ja nicht gleich so alles verschlingend sein wie die zwischen Thomas Wolfe und seinem Lektor (in dem Film »Genius – Die tausend Seiten einer
Freundschaft«).
Bei all dem finde ich es erstmal nicht entscheidend, ob ich von dem jeweiligen Text begeistert bin oder persönlich eher nicht so angesprochen. Und das müsste einem Autor auch zu vermitteln sein. Ich
weiß, das ist schwer, es erfordert Diplomatie. Andererseits ist das Lektorieren unser Job, wir sind Profis. Ein Konditor muss auch nicht von jeder Torte, die er mit
Erfahrung, Fachwissen und Geschick herstellt, selbst gern naschen.
Grit Zacharias: Das ist ein guter Vergleich! Aber genau das ist einigen Autoren schwer klarzumachen – dass wir als Profis auch dann einen guten Job
machen, wenn uns der Inhalt eigentlich nicht so richtig schmeckt (um bei der Torte zu bleiben). Anderes Beispiel: ein Fliesenleger. Der wird, selbst wenn er die Wahl des Kunden vielleicht schrecklich
findet, seine Arbeit doch genauso gewissenhaft ausführen wie sonst auch. Wir sind in unserem Job eben immer sofort auf einer sehr persönlichen Ebene, das ist wohl der
Unterschied. Wenn wir kritisieren, Verbesserungsvorschläge machen etc., geht es bei unserem Gegenüber – den Autoren – häufig ans Eingemachte; wir kritisieren ihr Herzensprojekt, ihr »Baby«.
Und da macht es natürlich einen Unterschied, ob wir sagen: »Ich finde Ihr Buch absolut großartig, nur hier und da …« oder ob die Kritik etwas großflächiger ausfällt.
Susanne Wallbaum: Ja, ich habe auch schon Autorinnen erlebt, die jede Änderung an ihrem Text als Angriff auf ihre Person zu verstehen schienen – dann
ist es natürlich schwierig. Aber ich erlebe es auch, dass ein Autor nach einer geglückten früheren Zusammenarbeit mehr Zutrauen hat, dass sich ein Vertrauensverhältnis entwickelt und manche
detaillierten Absprachen gar nicht mehr erforderlich sind.
Monika Rohde: Aber gerade bei länger währender Zusammenarbeit mit einem Autor
muss man aufpassen, dass man nicht zu viel investiert und mal so nebenbei noch dies oder jenes macht, wobei mir leider oft schwerfällt, nein zu sagen oder Preise zu nennen. Eben weil man den Autor in
der Zusammenarbeit schätzt. Und Telefonate sind zwar nett, aber lieber schreibe ich dem Autor eine lange E-Mail mit meinen grundsätzlichen Kommentaren zum Text, als dass ich es ihm am Telefon
erkläre. Auch, weil eine E-Mail länger hält als ein Gespräch.
Susanne Wallbaum: Das stimmt natürlich, auf eine solche Mail (die zu schreiben ja auch Aufwand ist) kann man sich später immer wieder beziehen. Und was
die langfristige Zusammenarbeit angeht: Sicher muss man aufpassen, dass man nicht zu viel nebenbei auch noch macht.
Bettine Reichelt: Ich empfinde es manchmal so, dass mir eine Liebe zum Text des Autors die Arbeit erschwert, ganz unabhängig davon, ob der Text gut oder
schlecht ist. Vielleicht erzählt mir der Text etwas über mich. Oder ich mag dieses Thema besonders. Dann bin ich schneller geneigt, sprachliche Fehler als Eigenheit des Autors zu akzeptieren. Ich
erinnere mich dann an meine Eltern, die immer meinten: »Im Familien- und Freundeskreis kann man nicht behandeln. Man sieht zu wenig und man sieht zu viel.« So geht es mir auch mit Texten.
Dementsprechend schwer fällt es mir z.B. auch, Texte-Genres zu bearbeiten, in deren Bereich ich selbst schreibe. Ich denke, auch das hat etwas mit zu großer Nähe zum Text zu tun.
Susanne Wallbaum: So oder so – die Kunst ist es immer wieder für uns, zu vermitteln, dass wir sehr ernsthafte und aufmerksame Leserinnen sind; dass es
vielleicht niemanden gibt, der sich so gründlich mit dem Text auseinandersetzt wie wir; dass wir das aber nicht tun, weil wir den Text persönlich lieben, sondern weil es
unsere Aufgabe ist. Wir wollen helfen, den Text besser zu machen; das Feilen daran, das ist es, was wir (im Idealfall) lieben.
Grit Zacharias: Sehr gutes Schlusswort, Susanne! Das heißt, um auf die Ausgangsfrage
zurückzukommen: Liebe zu seinem Text darf der Autor von seiner Lektorin nicht erwarten (aber die darf man ohnehin nie »erwarten«), Professionalität in Sachen
Textarbeit aber in jedem Fall.