Immer wieder werden belletristische Texte gelobt, wenn die Leser das Gefühl haben, dass die Geschichten oder Figuren authentisch sind. Aber was macht eine Geschichte authentisch? Ein Obduktionsbericht im Krimi? Die detaillierte Beschreibung einer Geburt oder einer Amputation nach einer großen Schlachtenszene? Wie viel Detail ist zu viel?
Darüber diskutieren diesmal: Kathleen Weise, Mona Gabriel, Bettine Reichelt, Grit Zacharias, Susanne Wallbaum, Monika Rohde, Hannelore Crostewitz und Annette Jünger
Kathleen Weise: Der realistische Anspruch – da ist man schnell dabei zu sagen: Das ist Geschmackssache. Natürlich ist Lesen und Textbewertung immer hoch subjektiv, aber ich denke, Autoren wirklich guter Texte haben ein Gespür für das richtige Maß.
Meine eigene (Geschmacks-)Grenze würde ich so formulieren: Wenn rechtliche Gesetze und logische Zusammenhänge missachtet werden, stört mich das beim Lesen. Kommissare arbeiten eben nicht allein, sondern im Team. Es gibt eine gewisse Reihenfolge, in der während der Ermittlungen gearbeitet wird, und es gibt Richtlinien, nach denen Obduktionen erfolgen.
Missachtet ein Autor diese Dinge, ist das für mich in den meisten Fällen ein Zeichen für schlechtes Recherchieren und mangelnde (Text-)Sorgfalt. Beide Punkte machen für mich unter anderem Textqualität aus.
Mona Gabriel: Ich bin da etwas im Zwiespalt. Einerseits stört es mich sehr, wenn der Autor ganz offensichtlich die Örtlichkeiten nicht gut recherchiert hat oder eine Figur sich völlig realitätsfern verhält. Eine Ermittlerin sollte nicht gerade in High Heels auftreten, und für eine Strecke mit der Metro durch Paris sollten realistische Fahrzeiten eingeplant sein. Andererseits passiert es mir als Leser immer wieder, dass mich ein Buch trotzdem fesselt, obwohl ich in der Logik gravierende Fehler entdecke. Als Lektorin weise ich meine Autoren natürlich auf solche Fehler hin.
Gerade bei Liebesromanen verlieren die Autorinnen tatsächlich oft die Realität aus den Augen. Wahrscheinlich weil sie dann schon in Gedanken beim Happy End sind … Damit meine ich ausdrücklich nicht die Realitätsferne von Geschichten wie »armes Häschen verliebt sich in tollen Hecht«. Das ist ja in dem Genre gesetzt. Ich rede eher von »seinen dunklen Blick bemerken« (im Dunkeln) »die Hände auf der Haut spüren« (wenn die Frau noch eine Lederjacke anhat).
Bettine Reichelt: Warum sollte eine Ermittlerin nicht in High Heels gehen dürfen? Das wäre für mich noch kein logischer Fehler. Logik und Realismus sind für mich nicht das Gleiche. Ich erlebe es im Krimi-Bereich immer wieder einmal, dass man gewissermaßen einen erzählten Tatsachenbericht will. Spannend zu lesen, aber doch so, wie das Leben heute ist. Das ist für mich oft nicht wirklich reizvoll, denn es schränkt den Autor ein.
Mit Blick auf den Krimi: Polizeiberichte kann ich mir im Internet anschauen. Dazu brauche ich kein Buch. Im Buch will ich mitleiden, mithoffen – und am Ende mitaufatmen, weil die Ordnung, soweit denn möglich, wiederhergestellt wurde. Dazu kann ich alles erzählen, auch weit von unserer heutigen Realität entfernt, aber in sich logisch und glaubwürdig.
Kathleen Weise: Ein Zuviel an realistischem Detail gibt es sicher auch. Das beste Beispiel sind für mich immer ausgeschriebene Telefonate. Der Leser weiß, dass es zuerst klingelt, dann jemand »Hallo“, »Hier Müller« oder »Ja, bitte?« sagt. Wenn darauf noch ein »Ich bin’s, Meier« oder »He, du« folgt, bremst das das Tempo und ist auch völlig überflüssig, da im Text vorher meistens angekündigt wird, wer wen warum anruft. Solche (Telefon-)Gesprächseinleitungen sind zu viel des Realistischen und nur interessant, wenn Müller Meier anruft, aber plötzlich und unerklärlich Schulze an den Apparat geht.
Hannelore Crostewitz: Mich stört auch, wenn nach einer spannenden Szene oder einem gut gebauten Dialog vom Autor plötzlich Allgemeinplätze auseinandergepflückt werden, weil nicht darauf vertraut wird, dass die Handlung trägt. Das erlebe ich oft in biografischen Texten und streiche es dann. Wenn der Autor sich an der Stelle selbst etwas weniger, dafür aber den Leser ernst nähme, würde er merken, dass es dem durchaus zugemutet werden kann, sich Dinge, die schlüssig sind, zusammenzureimen. Bei der übermäßigen Betonung oder Beschreibung ist jedes Detail zu viel, da kann es so wahr oder so fiktiv sein, wie es will.
Grit Zacharias: Oder wenn der Autor wirklich jedes Mal ausführlich beschreibt, dass der Protagonist seine Hausschuhe aus- und die Straßenschuhe anzieht, bevor er das Haus verlässt … Das sind Details, die jeder Leser weiß und ein Buch nicht authentischer machen.
Wenn jedoch aus irgendwelchen Gründen eine ganz bestimmte Schuhmarke im Buch detailliert beschrieben wird, dann erwarte ich als Leser aber auch, dass die Details stimmen. Da bin ich fast schon pedantisch. Als Lektorin weise ich die Autoren auch auf solche möglichen Unstimmigkeiten hin. Wenn in einem Roman beispielsweise ein Flug von München nach Wien beschrieben wird (nonstop), dann kann der eben nicht fünf Stunden dauern und dann wird da auch kein warmes Mittagessen serviert. Über solche offensichtlichen Mängel/Fehler könnte ich nie hinweglesen; sie schmälern in meinen Augen den Gesamteindruck eines Textes deutlich – egal, wie Story und Sprache ansonsten sind.
Bettine Reichelt: Wie oben bereits erwähnt, müssen für mich Details glaubwürdig, auch sauber recherchiert sein, aber der tatsächlichen Realität müssen sie nicht entsprechen. Je realistischer ich eigentlichen Unsinn zu erzählen vermag, desto bereitwilliger folgt mir der Leser in diese von mir geschaffene Welt. Das beste Beispiel dafür ist Terry Prattchet.
Susanne Wallbaum: Solche Ausführlichkeit, wie Grit sie beschreibt (Hausschuhe an, Hausschuhe aus usw.), findet sich häufig auch in mittelmäßigen Übersetzungen aus dem Englischen. Da trinkt der Detective nicht einfach Tee – er greift nach der Tasse, führt sie zum Mund, nippt daran und stellt sie, gern mit einem adjektivreich charakterisierten Klirren, wieder ab. Und das während einer Ermittlung viele Male. – Das hat dann nichts mit Realitätsnähe zu tun, sondern ist einfach eine Eigenheit englischen Erzählens, die man bitte nicht wortgetreu ins Deutsche übertragen sollte.
Details wie Schuhmarken oder konkrete Lebensmittel(marken) müssen, da bin ich mit Grit ganz einer Meinung, wenn sie denn vorkommen, stimmen. In übersetzten Werken holen sie zugleich ein bisschen Welt in den Text: eine Cornwall-typische Pastete, Sowieso-Gin oder eine besondere Wurst, die es angeblich ausschließlich in New Orleans gibt, weil die Rezeptur nur eingeweihten Cajuns bekannt ist …
Grit Zacharias: Realistisch und authentisch ist eine Geschichte für mich dann, wenn Situationen gut eingefangen und beschrieben werden. Wenn ich riechen kann, was ich gerade gelesen habe (das Meer, ein gerade gekochtes Essen, eine Muckibude …), wenn ich Geräusche und Stimmen aus dem Buch wahrnehme, wenn Fröhlichkeit, Angst, Wut, Trauer, ohrenbetäubender Lärm, Affenhitze oder Saukälte förmlich spürbar werden.
Susanne Wallbaum: Die Autoren, denen das gelingt: dass wir riechen, hören, nachfühlen können, was ihren Figuren begegnet, die sind schon großartig! Für dieses Leseerlebnis würde ich sogar eine lapidare oder vielleicht nicht ganz schlüssige Geschichte in Kauf nehmen.
Aber wie machen sie das, was können wir unseren Autoren raten? Da geht’s schon um Details, oder? Genau hinschauen, genau zuhören, mit allen Sinnen wahrnehmen, das Wesentliche erkennen – und beschreiben. (Klingt einfach, muss aber doch schwer sein.)
Monika Rohde: Aber selbst in einer gut beschriebenen Szene, wo ich eigentlich eintauchen könnte, stört es mich massiv, wenn ich die Gegebenheiten kenne und mich frage, wie das sein kann. Zum Beispiel, wenn Leute auf der Düne von Friedrichskoog laufen und ich in Gedanken immer wieder Deich sage, weil das eigentlich gemeint ist. Das sind Dinge, auf die eine Lektorin schon achten sollte.
Ich habe eine Kinderbuchautorin, die ihre Geschichte in drei Zeitebenen spielen ließ, mal gebeten, sich den Hauptort, der in allen drei Ebenen auftauchte, aufzubauen, um die Umgebung und die Zeiten genauer beschreiben zu können.
Annette Jünger: Ich stolpere auch über Dinge, die real so nicht sein können. Zum Beispiel, wenn eine Person auf dem Rücken gefesselt und mit geknebeltem Mund drei Tage allein in einem stickigen Raum ohnmächtig auf der Erde liegt, dann plötzlich aufwacht und (mit wundersamen Kräften ...) sich selbst befreit. Nach drei Tagen ohne Flüssigkeit steht niemand mehr auf (nur im Märchen, aber es war ein Krimi). Auf solche Unstimmigkeiten weise ich Autoren immer hin. Da gehe ich von mir aus: Wenn ich so etwas lese, bremst mich das in meiner (Lese-)Euphorie, und wenn es mehrere solche Patzer gibt, lege ich das Buch ganz weg.
Gegenbeispiel: Die Nachrichten von Alexander Osang – ein Gesellschaftsroman der 1990er-Jahre. Fiktion, eingebettet in eine reale und dem Leser wohlbekannte Welt. Da stimmt alles, Namen, Institutionen, Orte, Gegenden, Titel, Uhrzeiten, Abläufe … Gut recherchiert. So reißt mich die Geschichte mit, ich bin mittendrin – ich bin begeistert.
Bettine Reichelt: Ich bleibe dennoch dabei: Es geht nicht in erster Linie darum, wie real es ist, sondern wie logisch in sich.
Grit Zacharias: Ich erinnere mich an ein Buch, das ich vor etwa zehn Jahren las: Die Arbeit der Nacht von Thomas Glavinic. Ein Buch, das mich sehr gefesselt hat, das gut geschrieben und wirklich spannend war, über das wir im Familien- und Freundeskreis (Was wäre, wenn …) diskutiert haben.
Wohl wissend, dass die Story (Mann wacht eines Morgens auf, alle anderen Menschen sind weg, er scheint der einzige Überlebende einer wie auch immer gearteten Katastrophe zu sein und macht sich irgendwann von Wien aus auf den Fußweg nach England) nicht unbedingt einem realistischen oder wahrscheinlichen Szenario entspringt, stellte ich mir beim Lesen dennoch ganz reale Fragen (wie zum Beispiel: Wieso kommt nach zig Wochen immer noch Wasser aus dem Wasserhahn, Strom aus der Steckdose etc., wenn doch wirklich niemand mehr in den Versorgungsbetrieben arbeiten kann?), die das Buch respektive der Autor nicht beantwortet hat.
In meinen Augen war die Story nicht ganz zu Ende gedacht und demnach auch nicht hundertprozentig authentisch. Heute frage ich mich, ob das dem Lektor nicht hätte auffallen müssen? Andere sagen mit Sicherheit, diese Dinge muss ein Buch nicht vollumfänglich beantworten. Ich aber habe mich daran gestört, und für mich hat es den Gesamteindruck des Buches auf alle Fälle geschmälert.
Kathleen Weise: Das ist ein gutes Beispiel. Ich bin da bei dir, Grit. Genau diese Fragen würde ich auch stellen. Ich nehme gern hin, dass die Ausgangslage phantastisch ist, aber ihre Folgen müssen realistisch bleiben.
Aber inwiefern ist das nun keine Geschmackssache?
Ich kenne nämlich auch Autoren und Lektoren, die sich keineswegs daran stören würden, wenn aus dem Wasserhahn noch Wasser kommt, obwohl niemand mehr im Wasserwerk ist.
Sie würden argumentieren, dass es um andere Dinge geht. Möglicherweise um das Empfinden der Hauptfigur, um soziale Aspekte etc. Dann ist der Wasserhahn nur Bestandteil der Kulisse – und muss er als solcher realistisch sein?
Grit Zacharias: Ich bleibe dabei: für mich, ja. Nicht der Wasserhahn an sich, aber eben die Versorgungssysteme. Weil in dem konkreten Fall die Tatsache, dass höchstwahrscheinlich nicht ein einziger Mensch mehr am Leben ist, ja das zentrale Thema des Buches ist und neben den Ängsten und Empfindungen des Protagonisten es doch auch genau um diese Dinge geht. Aber hier liest und denkt und empfindet natürlich jeder Leser anders und nicht jeder wird sich beim Lesen die gleichen Fragen stellen.
Doch zurück zur Ausgangsfrage: Wie viel Detail ist zu viel? Wenn es gut geschrieben ist, dann gibt es überhaupt kein Zuviel; nichts ist schlimmer als ein durchweg an der Oberfläche dahinplätschernder Text. Denken wir an John Irving, von dem bekannt ist, dass er sich Wochen und Monate auf Reisen begibt, um die realen Schauplätze seines nächsten Romans zu besuchen, um Details zu studieren, Stimmungen, Licht, Geräusche etc. einzufangen.
Susanne Wallbaum: Reale Schauplätze, so sie denn konkret vorkommen und, s. o., gut beschrieben sind, können ja für die Tourismusbranche höchst interessant sein – auf Harry Potters Spuren durch London, mit Donna Leon auf dem Canal Grande, mit Kurt Wallander durch Ystad usw. Das mag hier und da nerven, ich schätze dieses reale Moment aber sehr; für mich erdet es das Erzählte, macht es lebendiger.
Mir ist es beispielsweise in einer Übersetzung begegnet, dass eine Romanfigur, ein älterer Mann, die Macke hatte, für jede Distanz die optimale Route zu finden und die dann ausgiebig mit seinem Sohn zu besprechen. Da habe ich manche Stunde über Karten verbracht und quasi mit dem Finger die Interstates und Highways nachgezogen. War mühsam, aber es hat alles gestimmt. Mir ist daraus ein Gefühl für Entfernungen erwachsen, ich habe von entlegenen Gegenden gehört, die Romanfigur war dadurch super markiert, das Suchen nach dem besten Weg war ein Running Gag – alles bestens.
Bettine Reichelt: Aber ist es nicht auch an dieser Stelle so, dass die Inanspruchnahme des Realen den eigenen in sich wiederum logischen Weg begleitet und nicht umgekehrt? In unserem ganzen Gespräch scheint es mir nicht ganz klar zu sein, was wir jeweils unter logisch und unter real verstehen.
Meiner Meinung nach beschreibt real die Wirklichkeit, die ich wahrnehme. Da Wirklichkeit aber an sich etwas Fließendes ist, das durch gemeinsame Festlegungen entsteht – und nicht so oder so ist und sein muss–, ist das eine eher schwammige Grundlage für das Erzählen. Auch wenn ich freilich in London, Rom und Leipzig recherchieren kann, wie ein Weg verläuft.
Dennoch ist für mich entscheidend, ob der Weg, den der Autor mir weist, ein in sich logischer ist. Das ist im europäischen Denken weit klarer festgelegt als das viel beschworene Reale. Den logischen Schluss kann ich mit dem Leser gemeinsam ziehen. Die Realität wird er sich nach seiner eigenen Vorstellung jeweils neu erschaffen.
Susanne Wallbaum: Der Hinweis auf die Kategorie des Logischen ist selbstverständlich wichtig; ich teile die Auffassung, dass eine Geschichte mit innerer Logik besser funktioniert. Wenn dann aber der logische Weg, den der Autor weist, durch stimmige, gut recherchierte Realia führt – umso besser! (Was natürlich nicht heißt, dass es nicht tolle Texte gibt, in denen die äußere Wirklichkeit im Dienst der Geschichte abgewandelt, verfremdet oder vielleicht nur ein kleines bisschen überzeichnet wird; mir fallen da zum Beispiel einige der Erzählungen von George Saunders ein.)
Kathleen Weise: Fassen wir also unsere Tipps für Autoren zusammen: Gute Recherche ist ein literarisches Qualitätsmerkmal. Sie zeigt, dass der Autor um Sorgfalt bemüht ist. Realistische Zeit- und stimmige Ortsangaben tragen zur Authentizität bei.
Realismus ist keine Frage des Genres. Wenn in ES von Stephen King ein mörderisches Clownsmonster umgeht, ist das zwar (hoffentlich) nicht realistisch, aber die phantastische Grundlage der Story wird eingebettet in ein realistisches Setting (auch wenn der Ort nicht existiert, er funktioniert, wie solche Orte eben funktionieren). Solange die innere Logik stimmig und überzeugend ist (die Kommissarin trägt High Heels, weil sie gerade aus dem Theater kommt oder ihre Halbschuhe noch im Umzugskarton stecken), dann darf sich die Realität auch gern mal ein bisschen biegen.