Verhasstes aus der Deutschstunde – Warum hat die Lyrik keine Lobby mehr?

 

»Das Essen war ein Gedicht!«, sagt man. Immerhin hier im Sprachgebrauch ist es verwurzelt, vorhanden und von Wert, tritt vielleicht häufiger auf als in mancher Buchhandlung – das Gedicht. Jenes Strophengebilde verschiedener Art, das Kinder schon früh lernen, da freilich im reimenden Rhythmus, was Freude macht und sich bis ins hohe Alter merken lässt. Wer Glück hat, dem werden im wahren Leben dazwischen noch andere begegnen, nicht nur Rilke, Hesse und Tucholsky, sondern vielleicht auch Abel Karasholi, Andreas Reimann oder Nele Heyse, um nur einige zu nennen. Der Reim spielt die Rolle seltener, das Lyrische aber geht unter die Haut, ist einfühlsam, bisweilen gewagt, bleibt in einem hängen und bereichert das Leben. Kaum eine Karte, die nicht mit Versen versehen.

Doch die Welt da draußen mault: Gedichte? Die kauft und die will doch keiner …

Was meint ihr: Warum hat die Lyrik heute keine Lobby mehr?

 

 

Darüber diskutieren diesmal (von links): Hannelore Crostewitz, Dr. Grit Zacharias, Kathleen Weise, Annette Jünger, Mirjam Becker, Bettine Reichelt und Monika Rohde

 

 

Hannelore Crostewitz: Leben ohne Gedichte? Kenne ich nicht. Weiß nicht, was geworden wäre, wenn ich als Schutzbefohlene sie nicht gehabt und mich nicht an ihnen hätte festhalten können, auf der Suche nach dem eigenen Lebenssinn. Die Sprache, der Rhythmus, sie haben mich getragen. Die Zuversicht, der Trost, das Allgemeingültige, überhaupt, alles, was ich daraus entnehmen konnte – ich glaube fast, es hat mich gerettet.

Und noch heute, während die Welt so völlig auf Realismus setzt, sehe ich eine verstärkte Dringlichkeit darin, ihr etwas entgegenzusetzen, kleine Momente der Aufmerksamkeit, bestimmte Gefühle und Gedanken aufzuzeigen, und ich lese weiterhin gern Gedichte und schreibe selbst auch welche.

 

Grit Zacharias: Nach Baudelaire könne jeder gesunde Mensch zwei Tage ohne Nahrung auskommen, aber niemals ohne Dichtung; diese Kunstform würde immer die größte Ehre genießen. Für manchen unter uns mag das zutreffen, in der Gesellschaft wird der Dichtung heute definitiv nicht mehr die größte Ehre zuteil.

 

Kathleen Weise: Am Gesamtbuchmarkt hatte sie 2017 lediglich einen Anteil von unter zwei Prozent. Auf der anderen Seite erhielt der Lyriker Jan Wagner 2015 den Preis der Leipziger Buchmesse für einen Lyrikband.

 

Annette Jünger: Nun, mein Leben haben Gedichte noch nicht gerettet (es war noch nicht in Not), aber in bestimmten Momenten sehr bereichert. Zugegeben – meine Lyrikbände nehmen sich gegenüber meinem Prosabestand bescheiden aus, und ich gestehe, dass mein Interesse vorwiegend der Belletristik gilt, ich also im Buchladen zuerst nach solchen Büchern greife. Lyrik nimmt erst den zweiten Platz ein, obwohl sie mich durchaus begeistern kann. Ich muss aber erst darauf gestoßen werden, eine Empfehlung bekommen, ihr zufällig über den Weg laufen (zur Buchmesse zum Beispiel).

Wenn die Gedichte dann meinen Nerv treffen (was nicht immer der Fall ist), begleiten sie mich ein Leben lang und ich blättere immer mal wieder im Band. Eva Strittmatter ist ein Beispiel dafür, allein schon von ihren Titeln (wie »Ich mach ein Lied aus Stille« oder »Mondschnee liegt auf den Wiesen«) bin ich fasziniert und fühle mich in eine imaginäre Welt gezogen.

 

Kathleen Weise: Genau diese poetischen Bilder sind aber auch das »Problem« der Lyrik, wenn es um das Verständnis der Massen geht. Keine literarische Form arbeitet so sehr mit dem Autoren-Ich wie die Lyrik. Daher bleiben Bilder und Assoziationen eben oft unverständlich. Zuweilen haben Leser das Gefühl, sie bräuchten einen Übersetzer für das Lyrische.

 

Mirjam Becker: Da ließe sich natürlich fragen, ob Gedichte überhaupt massentauglich sein sollen, oder ob sie nicht eher Selbstgespräche sind – sowohl der Schreibenden als auch der Lesenden.

Wenn ein Bild mich anspricht, etwas in mir berührt (ich es also »verstehe«, oft ohne sagen zu können, warum), dann finde ich das Gedicht natürlich gut, weil es etwas auszudrücken vermag, was ich auch empfinde oder nachempfinden kann. Und wenn das Bild nichts in mir auslöst, finde ich es kryptisch, das kann ich aber dem Gedicht nicht vorwerfen.

 

Grit Zacharias: Das ist mit der Lyrik aber sicherlich nicht anders als mit der übrigen Literatur oder der Kunst  es spricht einen an, berührt ... oder eben nicht.

Auch würde ich dem widersprechen wollen, dass Lyrik überwiegend Innenbeschau und Selbstreflexion der jeweiligen Autoren/Dichter ist, das greift mir eindeutig zu kurz.

 

Mirjam Becker: Ich meinte auch nicht Nabelschau, sondern Selbstgespräch (im Gegensatz zur öffentlichen Rede) – das kann ich auch über gesellschaftspolitische Themen tun.

 

Bettine Reichelt: Ich denke, es gab zu allen Zeiten Gedichte, die sehr stark der Selbstreflexion dienten, und ebenso auch politische Lyrik. Gerade Anfang des 20. Jahrhunderts war Lyrik sehr stark auch öffentlich-politisch motiviert, man denke nur an Brecht, Kästner oder auch Tucholsky. Aber auch bei Armin T. Wegener finden sich politische Gedichte.

Ich denke, diese Art der Lyrik wird heute zwar weniger stark wahrgenommen, gewinnt aber meiner Meinung nach gerade im Bereich der Slamer an Bedeutung.

 

Kathleen Weise: Es ist ja nicht so, dass die Lyrik nur noch für einen kleinen, verständigen Kreis lyrikgeschulter Köpfe geschrieben wird – ihre artverwandte Literaturgattung der Songtexte erfreut sich großer Beliebtheit (und gewinnt sogar Nobelpreise). Übrigens auch bei jungen Leuten und sogar mit Reimen. Solange nicht »Gedicht« drauf steht, sondern vielleicht »Song«, finden auch Leute daran Gefallen, die einen Lyrikband nicht mit der Kneifzange anfassen würden.

Woher kommt also die Abneigung gegen die Bezeichnung »Gedicht«? Möglicherweise daher, dass wir alle in der Schule Gedichte auswendig vortragen mussten?

 

Mirjam Becker: Ich glaube, das hat wieder etwas mit der »Unverständlichkeit« von Gedichten zu tun bzw. mit dem Vorurteil, sie seien es. Poetisches Sprechen handelt ja zumeist von Gefühlen, eben weil die Form so sehr mit dem Autoren-Ich arbeitet. Möglicherweise scheuen sich viele davor, sich mit diesen Gefühlen auseinanderzusetzen, oder es sind nicht ihre, weswegen Gedichte nicht verstanden werden.

Songtexte sprechen zwar auch von Gefühlen, sie müssen aber allein von ihrer Funktion her massentauglicher sein und verwenden daher alltäglichere, verständlichere Bilder.

Viel problematischer finde ich, dass die Bilder vieler Gedichte (und auch Songtexte) für meinen Geschmack allzu banal und flach, ja geradezu pubertär sind. Vieles, was man in Internetforen oder sogar gedruckt liest, kommt mir doch sehr prosaisch daher. Gedichte sollten nicht einfach bloß sprechen, sondern anheben zu sprechen, einen Rhythmus besitzen (das geht auch ohne Reime) und ihre Bilder und Bezüge möglichst zu Ende denken. Ansonsten handelte es sich nur um in Zeilen gesetzte Prosa.

Vielleicht haben Gedichte deshalb keine Lobby, weil sie auf der einen Seite von vielen nicht verstanden werden (wollen) und es auf der anderen Seite zu viele schlechte Gedichte selbsternannter Hobby-Poeten gibt. Und beides lässt sich nicht verkaufen.

 

Bettine Reichelt: Christel Hartinger, die über Brecht promovierte, wies mich immer wieder darauf hin: Der Profi garantiert nicht den guten Text – und der Laie steht nicht für den schlechten. Und neuerdings wird ja sehr stark für eine verkaufsfähige Lyrik geworben.

Allerdings sehe ich den Markt derzeit auch nicht. Es gibt viele, die schreiben, aber weit weniger, die rezipieren. Vielleicht hat das auch etwas mit dem Zeitgeist zu tun. Zu DDR-Zeiten gab es Lyriklesungen, die überfüllt waren. Heute geht man noch zu den »großen Namen«, aber kleine Festivals wie das Lyrikfestival in der Lausitz haben es schwer. Da treffen sich vor allem die Kollegen.

 

Grit Zacharias: Vielleicht haben Gedichte heute in der jüngeren Generation keine Lobby mehr, weil der Umgang mit Lyrik, der Blick darauf gar nicht mehr geschult wird? Zumindest nicht mehr in dem Maße, wie es noch zu unserer Schulzeit der Fall war.

Vielleicht muss man ja gerade  und da komme ich noch mal auf Kathleens letzte Frage zurück  erst mal einige Gedichte (und da meine ich mehr als zwei) auseinandernehmen, auswendig lernen, rezitieren, um ein Gespür für diese Gattung der Literatur zu bekommen? Meines Erachtens kommt das heute viel zu kurz.

 

Mirjam Becker: Auf jeden Fall! Womöglich ist die heutige Geringschätzung der Lyrik in der Schule ja auf die Angleichung der Lehrpläne auf »Westniveau« zurückzuführen. Wenn ich an meine Schulzeit in den 70er, 80er Jahren zurückdenke, so kann ich mich nicht erinnern, je ein Gedicht auswendig gelernt haben zu müssen. Und Gedichte wirklich analysiert haben wir damals eigentlich nur in der Oberstufe. Nach der Gruppe 47 schienen kaum noch Gedichte geschrieben worden zu sein, da hat man gerade noch einmal Jandl oder Fried behandelt.

 

Bettine Reichelt: Ich weiß nicht, ob das so stimmt, die Schüler, mit denen ich rede, stöhnen über jede Gedichtinterpretation. Vielleicht ist es auch eine Frage des Alters. Ich setze beispielsweise gern moderne Umsetzungen alter Texte ein, wie das Lyrikprojekt zu Rilke. Aber das veraltet sehr schnell. Im Grunde braucht man immer wieder neue Umsetzungen, die noch etwas mit der Welt der Schüler zu tun haben. Das zu vermitteln schaffen meiner Meinung nach nur wenige. Es ist weniger eine Frage des Lehrplans, denke ich.

 

Mirjam Becker: Ja, das kann auch sein. Mir sind Gedichtinterpretationen immer leichtgefallen, da hat sich vielleicht meine Wahrnehmung verschoben. Oder es lag an der Schulform (progressive kooperative Gesamtschule).

 

Kathleen Weise: Interessant ist übrigens, dass die »Lyrikproduktion« in der DDR deutlich höher war als in der Bundesrepublik.

 

Mirjam Becker: Findest du? Oder haben Lyrikbände im Westen einfach eine sehr viel kleinere Auflage erfahren, weil sie sich nicht so gut verkaufen ließen, und waren deshalb weniger bekannt?

 

Hannelore Crostewitz: Bestimmt ist der Verkauf ein Aspekt. Aber, und da muss ich Kathleen recht geben, es war auch politisch gewollt, denn innerhalb der 40 Jahre DDR – auf die ich jetzt nicht dogmatisch setze – war es so, dass es überall die »Zirkel Schreibender Arbeiter« gab: in jedem größeren Betrieb, jeder Stadt bis hin zum Dorf (ich erinnere an Erwin Strittmatter) – es gab sie in den unzähligen Kulturhäusern, Tagebaus und Schulen, und sie alle wurden geleitet von gestandenen Schriftstellern oder überaus kundigen Leuten, die beispielsweise am Institut für Literatur »Johannes R. Becher« in Leipzig studiert hatten, es war also über die vier Jahrzehnte ein großer Fundus an Wissen vorhanden, der weitergereicht wurde.

Und nicht zu vergessen, geschah das an Ort und Stelle, wo die Arbeit und somit ein Großteil des Lebens stattfand. Erinnert sich denn keiner mehr an die Buchreihe »NDL, Neue Deutsche Literatur«? Oder an die Reihe »Sinn und Form?« Oder an das »Poesiealbum«, das regelmäßig mit neuen Gedichten verlegt wurde und dessen Tradition Ralph Grüneberger aufgriff, als er die Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik gründete, wobei er nun wieder ein »Poesiealbum neu« auf den Markt bringt, vierteljährlich.

Gedichte hatten hier einst eine Plattform. Und sie wurden viel gelesen. Auch zwischen den Zeilen. Autoren wie Christa Wolf, Rainer Kunze, Gunter Preuß – befragte man sie, wüssten sie ein Lied davon zu singen oder ein Gedicht dazu zu schreiben.

 

Grit Zacharias: Da hast du vollkommen recht! Nicht zu vergessen auch die Rezitatorenwettstreite, die Jahr für Jahr, Schule für Schule, anschließend auf Kreis- und Landesebene in sämtlichen Altersklassen ausgetragen wurden.

Für mich persönlich war seit meiner Schulzeit das Lesen und der Umgang mit Gedichten etwas absolut Selbstverständliches egal, ob Gedichte von Goethe, Heinz Kahlau, Gisela Steineckert oder anderen. Und egal, ob man nun ein besonderer Freund der Lyrik war oder nicht  Gedichte gehörten zum kulturellen Leben einfach dazu. Wenn es zum Beispiel galt, ein Kulturprogramm in der Schule oder im Ferienlager auf die Beine zu stellen (und das kam zwei- bis dreimal im Jahr vor), bestand dies meist aus der klassischen Abfolge: Lied, Gedicht, Lied, Gedicht … Man kannte einfach Gedichte, und es fand sich immer jemand (na ja, meist …), der sie aufsagen wollte.

Diesen selbstverständlichen Umgang mit Gedichten beobachte ich heute leider gar nicht mehr.

 

Mirjam Becker: Im Westen wurden Gedichte eher als etwas Elitäres, Intellektuelles, Lebensfremdes betrachtet, das nicht so sehr im Alltag fußt bzw. auch nicht in ihn eingebunden ist. Gedichte waren eher etwas für Studierte oder Schöngeister.

Könnte die stärkere Rezeption im Osten vielleicht auch daran liegen, dass der Bedarf nach Kultur jenseits von Partei und sozialistischem Frohsinn ohnehin stark ausgeprägt und gelernte Ostbürger im Lesen zwischen den Zeilen geübter waren? In diesem Zusammenhang würde mich auch interessieren, wie das heutzutage aussieht, also wo mehr Lyrik gelesen wird, hüben oder drüben.

 

Monika Rohde: Ich möchte dir vehement widersprechen, Mirjam. Auch im Westen wurde sehr viel Lyrik gelesen. Ich denke dabei nur mal an Sarah Kirsch oder auch Erich Fried, dessen Gedichte vor allem in der Friedensbewegung sehr bekannt waren. In den 1970er- bis 80er-Jahren gab es sogar gerade für Jugendliche sehr viele Gedichtbände, eben politische Lyrik. In der Zeit war die Lyrik eine Möglichkeit, sich politisch auszudrücken und nicht mit dem Establishment aneinanderzugeraten. Ich kenne einige Lehrer, die unters Berufsverbot fielen und anfingen, Gedichte und Songtexte zu schreiben, weil man damit nicht auffiel.

Man darf unter Lyrik ja nicht nur die schwärmerische Natur oder Lebenslyrik verstehen, mit der ich im Übrigen nichts anfangen kann. Mir geht es im Gegensatz zu Mirjam eher darum, klare Aussagen zu bekommen. Sei es im politischen Sinn oder eben auch lustig.

Inzwischen lese ich sie nur noch sehr selten, mag aber immer noch die Lyrik von Storm oder Reuter, Ringelnatz oder Gernhardt, weil man dabei nicht erst überlegen muss, was es bedeuten könnte, um es mal krass zu sagen.

 

Grit Zacharias: Um klare Aussagen geht es mir beim Lesen von Lyrik überhaupt nicht, sondern einzig um die Sprache! Ich kann auch Gedichte besonders schön finden, die ich nicht zu hundert Prozent verstehe, wenn die Wörter, der Klang, die Bilder, der Rhythmus für mich stimmen.

 

Mirjam Becker: Das geht mir genauso – wenn ich klare Aussagen will, lese ich einen Essay oder ein Sachbuch ... Mag sein, dass Lyrik auch im Westen viel gelesen wurde (interessanterweise mit Sarah Kirsch eine Ost-Autorin, aber das nur am Rande), sie wurde aber nicht so ausgiebig in der Schule behandelt. Ich selbst habe Gedichte fast ausschließlich auf Eigeninitiative gelesen. Dieser breite, selbstverständliche Umgang mit ihnen, wie ihn Hannelore und Grit beschreiben, war im Westen einfach nicht verankert, das musst du zugeben, Monika.

 

Monika Rohde: Nein, das werde ich so nicht zugeben, wir haben noch viele Gedichte auswendig gelernt und auch bearbeitet. Mag sein, dass es in den 1990er-Jahren abwärtsging. Kurz zu Sarah Kirsch: Bekannt wurde sie im Westen, als sie »rüberkam«.

Aber die großen alten Lyriker hatten alle mehrere Editionen in einigen Verlagen bzw. haben noch – diese dicken kleinen braunen Leinenbände. Ich weiß noch aus meiner Zeit im Buchhandel, dass die sich gut verkauft haben und, da es sie immer noch gibt, sich wahrscheinlich auch weiterhin verkaufen. Ich würde eher sagen, dass sich neue Lyrik nicht durchsetzen kann, weil wir uns inzwischen, auch durch die Überflutung der Medien, nicht mehr die Ruhe dazu nehmen. Es gibt so viel Ablenkung, dass uns die Muße zum Lesen und Sich-Auseinandersetzen mit Gedichten fehlt.

 

Kathleen Weise: Ich glaube auch, dass die Konkurrenz anderer Medien eine große Rolle spielt. Hinzu kommt, dass sich mit Lyrik (abgesehen von den Untergattungen Slam-Poetry und Liedtext) nicht so gut Veranstaltungen bewerkstelligen lassen. Man kann eben nicht zwanzig Gedichte hintereinander vorlesen. Um aber auf eine für das Publikum befriedigende Veranstaltungsdauer zu kommen, werden Lyrikern oft Musiker zur Seite gestellt. Mehr Künstler bedeuten aber auch mehr Honorare, Fahrt- und Übernachtungskosten. Organisatoren müssen kalkulieren.

Das Gleiche gilt für Verleger. Die heute doch recht verbreitete Käufermeinung »Ich möchte für mein Geld was haben« lässt sich schlecht mit einem 80-Seiten-Lyrikband vereinbaren.

Interessanterweise ist die Lyrik in Wettbewerben jedoch ganz gut vertreten. Es gibt zahlreiche Ausschreibungen, die sich ausschließlich dieser Literaturgattung widmen.

Täuschen wir uns also vielleicht, wenn wir glauben, dass die Lyrik keine Lobby hat?

Vielleicht ist diese Lobby nur nicht so laut wie in anderen Bereichen. Sie scheint ja doch vehement an ihrer liebsten Kunstform festzuhalten. Es gibt sie ja, die »Lyriktage«, die Veröffentlichungen in unabhängigen und mittelgroßen Verlagen, den festen Platz in Literaturzeitschriften – und die Suche nach neuen Wegen für eine alte Kunst. Lyrische Zeilen an Häuserwänden, Zitate auf Tassen und T-Shirts, Vorschläge für Lyrikgalerien.

Möglicherweise liegt der Schlüssel zum Weiterbestehen dieser Literaturgattung einfach darin, dass sie sich zusammentut und ihre Lobby somit auf breitere Beine stellt.

 

Annette Jünger: Denn wie Ulla Hahn schon sagte: »Gedichte können uns nicht vom Kampf um die tägliche Existenz befreien, aber Wünsche und Begierden aufdecken, die unter den Anstrengungen des Lebens begraben sind. Dichtung kann verschlossene Möglichkeiten aufbrechen, betäubte Zonen des Gefühls wiederbeleben, Begehren wecken. [...] Dichtung, das Sprechen in Bildern und Gleichnissen, ist die Muttersprache der Seele.« (aus: Süßapfel rot – Gedichte, Nachwort)

 

 

Meine Wörter

von Ulla Hahn

 

Meine Wörter hab ich

mir ausgezogen

bis sie dalagen

atmend und nackt

mir unter der Zunge.

 

Ich dreh sie um

spuck sie aus

saug sie ein

blas sie auf

 

spann sie an

von Kopf bis Fuß

spann sie auf

 

Mach sie groß

wie ein Raumschiff zum Mond

und klein wie ein Kind.

Überall suche ich die Zeile

die mir sagt

wo ich mich find.

 

Warum hat die Lyrik keine Lobby mehr?
Das Gespräch zum Ausdrucken.
TW_Gespräch_April_18.pdf
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